Erzdiözese München und Freising
Fachbereich Weltanschauungsfragen
Informationen zu religiösen und weltanschaulichen Strömungen

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Pfingstbewegung

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Einleitung

Die Pfingstbewegung ist eine weltweite christliche Erweckungs- und Missionsbewegung, die das grenzüberschreitende Wirken des Heiligen Geistes und die Praxis der Charismen (vor allem Heilung, Zungenrede/Glossolalie und Prophetie, vgl. Apg 2 und 1. Kor 12-14 ) in den Mittelpunkt ihrer Frömmigkeit stellt. Sie ist von vier fundamentalen Lehren bestimmt, die
allesamt auch auf Praxiszusammenhänge bezogen sind: Erlösung, Heilung, Taufe im Heiligen Geist und Erwartung der baldigen Wiederkunft Christi. Neben ihren evangelikalen Anliegen (Bekehrung/Wiedergeburt, Gemeinschaft, Mission) konzentriert sich pfingstlerische Frömmigkeit auf Erfahrungen und Phänomene (z.B. Wunder, Visionen, Befreiung von Besessenheit, Ekstase), die religionsüberschreitenden Charakter haben.

Die Wirkung der Pfingstbewegung ist in unterschiedlichen politischen und religiösen Kontexten eine je verschiedene. In der westlichen Welt ist sie Protest gegen das geheimnisleere Wirklichkeitsverständnis der Aufklärung und gegen ein Glaubensverständnis, das die Dimension des Wunders ausschließt. Viel stärker als im Kontext moderner Industriegesellschaften breitet sich pfingstlerische Frömmigkeit in Afrika, Asien und Südamerika aus, wo es chancenreichere kulturelle Anknüpfungsmöglichkeiten gibt. Für viele, die sich ihr anschließen, ist dies mit der Hoffnung auf ein menschenwürdigeres Leben verbunden. Die soziale Bedeutung der Pfingstbewegung kann beinhalten: Stärkung des
Selbstvertrauens, Erschließung der eigenen Emotionalität, Interesse an Bildung und sozialer Neugestaltung.

Der Glaube der Pfingstler ist stark biblizistisch, in vielen Ausprägungen auch fundamentalistisch geprägt im Sinne einer Orientierung an der Unfehlbarkeit der Heiligen Schrift und der unmittelbaren Identifikation der eigenen Glaubenspraxis mit dem urchristlichen Vorbild. Im Zentrum der Frömmigkeit steht die Suche nach der Erfahrung des Geistes als „Kraft aus der Höhe“, die den Glaubenden ergreift, heilt und zu einem Zeugnis befähigt, das von Zeichen, Wundern und Dämonenaustreibungen (vgl. Mt 10,7ff) begleitet ist. Die Taufe im Heiligen Geist wird als eine der Bekehrung und Wiedergeburt folgende Erfahrung göttlicher Gnade verstanden, die zum Zeugnis bevollmächtigt. Sie ist Kristallisationspunkt der Frömmigkeit. In zahlreichen klassischen Lehrausprägungen wird die Zungenrede als wahrnehmbares Erkennungsmerkmal der erfolgten Geistestaufe begriffen. Es gehört zum Selbstverständnis vieler Pfingstgemeinschaften, überall „neutestamentliche“, d.h. freikirchliche, täuferische, pfingstlich-charismatische Gemeinden zu bauen. Die Taufe im Heiligen Geist ist nicht nur individuelle Erfahrung, sondern zugleich auch Strategie göttlichen Handelns in endzeitlicher Erweckungsperspektive.

Die historischen Kirchen haben pfingstlerische Bewegungen lange Zeit als sektiererische Abspaltungen wahrgenommen. Umgekehrt hat die frühe Pfingstbewegung in den großen Kirchen antichristliche Systeme gesehen. Inzwischen bekundet die größte Pfingstgemeinschaft in Deutschland, der Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden (BFP, ca. 44.000 Mitglieder), zunehmend Offenheit gegenüber anderen Kirchen. Als Folge dieser neuen Entwicklungen wurde 2001 sein Gaststatus in der Vereinigung Evangelischer Freikirchen (VEF) in eine Vollmitgliedschaft umgewandelt.

Einschätzung

Die Herausforderung pfingstlerischer Frömmigkeit an die historischen Kirchen liegt vor allem darin, die konventionellen Formen des gottesdienstlichen Lebens zu verlebendigen. Mit ihren Erfahrungsangeboten antworten pfingstlerische Bewegungen auf die Vergewisserungssehnsucht der Menschen in einem durch religiöse und weltanschauliche Vielfalt geprägten Lebenskontext. Die einfache Antwort, die sie dem verunsicherten Zeitgenossen und Christen geben, lautet: „Du musst nicht die Vielfalt der Möglichkeiten ausprobieren oder intellektuelle Anstrengungen zur religiösen Identitätsfindung unternehmen. Du kannst Gottes Kraft konkret erfahren, indem du Jesus bzw. den Heiligen Geist anrufst und sichtbare und greifbare Zeichen des Berührtwerdens durch ihn erfährst (Zungenreden/Sprachengebet, Heilungen, Visionen und prophetische Eindrücke ...). Die Vergewisserung wird in sichtbaren Geistmanifestationen gesucht und gefunden, die als unzweideutige Zeichen der göttlichen Gegenwart angesehen werden.

Kritik an Fehlformen pfingstlerischer Bewegungen sollte in einer Form geschehen, die die gemeinsamen christlichen Orientierungen nicht außer Acht lässt. In ökumenischer Hinsicht werfen die pfingstliche Missionspraxis und Gemeindegründungsprogrammatik die Frage des Proselytismus auf. Widerspruch gegenüber Lehre und Praxis der Pfingstbewegung ist insbesondere dann nötig, wenn die Wirksamkeit des Geistes auf bestimmte spektakuläre Manifestationen konzentriert und damit faktisch eingegrenzt wird, wenn die Vorläufigkeit und Gebrochenheit christlichen Lebens unterschätzt und eine seelsorgerlicher Verarbeitung von bleibenden Krankheiten und Behinderungen verweigert wird, wenn ein dualistisch geprägtes Weltbild für den Frömmigkeitsvollzug beherrschend in den Vordergrund tritt und sich mit problematischen Praktiken und Lehren im Bereich des Kampfes gegen Geister und Dämonen verbindet.

Die pfingstkirchlichen Gruppen und Organisationen haben in Westeuropa an Dynamik eingebüßt. Zugleich breitet sich pfingstlerische Frömmigkeit durch zahlreiche „überkonfessionelle“ freie charismatische Gemeinden und Zentren weiter aus, die in Lehre und Praxis der Pfingstbewegung nahe stehen.

Dr. Reinhard Hempelmann, Juni 2009