Erzdiözese München und Freising
Fachbereich Weltanschauungsfragen
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Familienaufstellung nach Bert Hellinger

Respekt statt Macht

Bert Hellinger

Kritische Anmerkungen zur
„Familienaufstellung nach Hellinger“

Von Gabriele Pinkl

„Familienaufstellungen nach Hellinger“ gehören zu den bekanntesten Veranstaltungen der Gegenwartspsychologie. Bert Hellinger ist eine der bekanntesten, aber auch eine der schillerndsten Persönlichkeiten der Psychobranche. Immer häufiger werden auch über kirchliche Verbände und Pfarreien Wochenenden oder Seminare über Hellinger angeboten. Für Träger von Bildungsveranstaltungen ist es nicht immer einfach, sich über alle Referenten und Referentinnen und die von ihnen präsentierten Inhalte kritisch zu informieren. Daher möchte ich zur „Familienaufstellung nach Hellinger“ einige durchaus sehr persönliche Anmerkungen anbieten, die vielleicht dazu beitragen können, diese Art der Arbeit kritisch zu bewerten.

Zunächst einmal eine nötige Vorbemerkung. Ich verstehe Arbeit mit Familien primär als Beratung, durchaus auch mit therapeutischen, heilenden Elementen. Die Umschreibung meiner Arbeit als Beratung hat auch den Hintergrund, dass ich mich weigere, die Frauen und Männer, mit denen ich arbeite, zuerst in pathologisierende Schubladen zu stecken, damit ich eine Berechtigung zur „Therapie“ hätte. Die Familien, mit denen ich arbeite, mit denen die meisten Familienberater und -therapeuten arbeiten, sind auf der Suche nach Hilfe und Rat, weil sie im Moment Schwierigkeiten und Probleme haben. Im weiteren werde ich also durchgängig von Beratung sprechen. Dies entspricht auch dem, was ich unter Respekt vor den Klienten, von der Würde des (ratsuchenden) Menschen generell denke.

Begriffserklärungen

„Familienrekonstruktion“ bedeutet, dass Menschen unter qualifizierter Anleitung ihre eigenen Herkunftsfamilien rekonstruieren. Das heißt, dass sie Berichte über ihre Familien, die Familien ihrer Eltern und Großeltern, über wichtige Erlebnisse und Ereignisse sammeln und sich davon erzählen lassen. Dann arbeiten sie unter Anleitung von ausgebildeten und erfahrenen Therapeuten die Ereignisse heraus, die für sie in ihrem jetzigen Leben bedeutsam geworden sind, die positiv oder negativ auf sie wirken. Dabei ist davon auszugehen, dass das Verstehen der Entwicklungszusammenhänge von Familien dazu beitragen kann, Probleme aus einer anderen Perspektive wahrzunehmen und dann zu bearbeiten. Dabei kann die Arbeit mit Skulpturen eine sinnvolle und bereichernde Methode des Arbeitens sein.

Die Arbeit mit Skulpturen wurde in den sechziger Jahren von Virginia Satir und anderen in den USA entwickelt. Bei der Arbeit mit Skulpturen im Beratungskontext geht es darum, systemische Zusammenhänge, Entwicklungen in Familien und anderen Systemen quasi als Momentaufnahmen mit lebenden Personen darzustellen und zu verdeutlichen. Dabei kann gezeigt werden, wie Personen im Sys-tem einer Familie zueinander in Beziehung stehen. Die Arbeit mit Skulpturen hat sich im Lauf der Zeit differenziert. Dabei ist bei einer seriösen Arbeit darauf zu achten, dass die Personen, die sich für eine Skulptur zur Verfügung stellen, respektvoll angeleitet, begleitet und auch wieder aus der Rolle entlassen werden. Sie schlüpfen dabei ja in eine „Rolle“, von der sie sich wieder distanzieren können müssen, wenn sie aus der Skulptur heraustreten.

Das macht die Faszination dieser Arbeit aus, deutet aber uch schon an, was für ein sensibles Instrument der Beratung dies sein kann. Diese Arbeit wird in der Regel nur von erfahrenen und gut ausgebildeten Therapeuten und Therapeutinnen übernommen. Dazu ist großes Verantwortungsbewusstsein nötig sowie die Fähigkeit, mit ungewohnten Sichtweisen und eventuell auftauchenden Krisen kompetent umzugehen. Diese Arbeit erfordert Vorbereitung und ein relativ umfassendes Wissen.

Die Skulptur-Arbeit kann im beraterisch-therapeutischen Kontext geschehen, in dem versucht wird, die Familienstrukturen, einzelne Bilder aus der Familienbiographie, mit Hilfe von Akteuren darzustellen. Dabei suchen Klient oder Klientin Stellvertreter für seine beziehungsweise ihre Familienmitglieder aus, die dann in einem Bild (der Skulptur) das familiale System darstellen sollen. Oft geht es dabei um die Dimensionen Nähe und Distanz der Familienmitglieder untereinander oder um bestimmte schwierige und belastende Interaktionen. Diese Arbeit mit Skulpturen ermöglicht es, eine Momentaufnahme von Familie zu stellen, in der Strukturen ablesbar sein können. Diese Arbeit weckt bei den meisten der Akteure Emotionen, die denen der „realen“ Familienmitglieder sehr nahe kommen können. Es ist faszinierend, wie die Aussagen der fremden, in der Skulptur stehenden Akteure, denen der realen Familienmitglieder äh-neln.
Die Arbeit mit Skulpturen, dieses dichte und Emotionen freisetzende Instrument der Arbeit mit Familien und Gruppen, scheint mir der Schlüssel zur Faszination zu sein, die auch die Arbeit von Bert Hellinger ausübt. Diese Methode wurde aber nicht von ihm entwickelt. Eine der ersten, die mit Skulpturen gearbeitet hat, war die amerikanische Psychologin Virginia Satir.

Mangelndes Verantwortungsbewusstsein

Bei einem Vergleich der jeweiligen Arbeitsweise von Virginia Satir und Bert Hellinger werden Unterschiede deutlich: Satir hat mit großem Respekt und fast mit Ehrfurcht vor ihren Klienten das Instrumentarium der Skulpturen und Familienrekonstruktion genutzt, um Familien dabei zu helfen, Lösungen für sich anzudenken, und sie in einer Beratung weiterzuentwickeln.

Hellinger präsentiert hingegen selbst die Lösungen in den „Familienaufstellungen“. Er benützt die Menschen, die zu ihm kommen, dazu, sich selbst und seine „Wahrheit“ darzustellen.
Einer der Kritikpunkte an der Familienaufstellung nach Hellinger ist, dass diese sich durch sehr kurze und schnelle Aufstellungen von Nähe- und Distanz-Skulpturen auszeichnen. Solche Aufstellungen dauern manchmal nicht länger als 10 bis 20 Minuten und finden häufig in großen Veranstaltungshallen mit bis zu 1000 Zuschauern statt. Wie es den Klientinnen und Klienten, von denen sich viele in echten Nöten befinden, nach der öffentlichen Darstellung ihrer Familiensituation geht, und wie sich ihr Leben danach weiter entwickelt, dafür interessiert sich nach deren Abgang von der Bühne der „Psycho-Guru“ nicht. Bert Hellinger hat längst die Grenzen des guten Geschmacks, der therapeutischen Ethik und der Verantwortung verlassen. Kritik an seiner Person lässt er nicht zu. Wenn Klienten versuchen, sich gegen seine Arbeitsweise zu wehren, bricht er die Arbeit ab, weil diese „noch nicht so weit“ seien, dass sie seine Wahrheiten verstehen.

Hellinger benützt gerne Formeln aus dem religiösen Kontext, um alte patriarchale Strukturen als Ordnungen zu preisen, die das Leben wieder in richtige Bahnen lenken beziehungsweise die Klienten „heilen“ sollen. Ein Grundproblem besteht für ihn darin, dass wir Menschen uns vor nichts mehr beugen können. In den meisten seiner Aufstellungen muss sich jemand vor einem anderen (meist dem Vater) beugen, ihm Respekt erweisen und dann ist die Welt wieder in Ordnung. Es ist nicht so, dass alles, was Hellinger sagt und tut, falsch wäre. Es ist aber so, dass die Art und Weise seines Arbeitens autoritäre und menschenverachtende Züge trägt, die er im Laufe seiner Karriere mehr und mehr zu kultivieren scheint. In einigen Fällen fordert er das Gegenteil dessen, was erfahrene und verantwortungsvolle Therapeuten raten würden, zum Beispiel bei sexuellem Missbrauch. Hier fordert er Frauen dazu auf, in der Rolle des Opfers zu bleiben, die Verantwortung für erlebten sexuellen Missbrauch zu übernehmen, anstelle die Verantwortung an den abzugeben, der sie zur Tatzeit wirklich hatte: dem Täter. Alles, was man bisher über Missbrauch und die Arbeit mit Betroffenen weiß, karikiert Hellinger auf autoritäre, ja chauvinistische Art. Von einer Frau, die von ihrem Vater als Kind sexuell missbraucht wurde, zu verlangen, dass sie auch vor diesem Vater noch in Ehrfurcht den Kopf neigt, ist nicht nur zynisch, sondern ein weiterer und erneuter Missbrauch dieser Frau und signalisiert letztlich, dass der Täter legitim gehandelt hat. Mit solchen Aussagen unterstützt Hellinger ein Klima der sexuellen Ausbeutung und Erniedrigung. Dieses Vorgehen ist nicht nur extrem kontraproduktiv für betroffene Klientinnen, sondern verleitet auch andere, die ihn zum Vorbild erkoren haben, dazu, ebenfalls auf unverantwortliche Weise zu agieren.

„Guru“ Hellinger?

Hellinger lässt es sich gefallen, wie ein „Guru“ behandelt zu werden. Er hat angeblich keine Schüler. Er sagt, dass man keine Ausbildung braucht, um Familienaufstellungen zu machen. Trotzdem gibt es ein Institut, das seinen Namen trägt. Er wehrt sich offensichtlich nicht dagegen, dass in seinem Namen eine Methode benützt wird und er als Lehrer bezeichnet wird. Dahinter sehe ich die Tendenz, dann Lehrer sein zu wollen, wenn es Lob gibt, aber die Verantwortung abzugeben, wenn Kritik kommt.

Nicht alles, was Bert Hellinger macht, ist Intuition und seine eigene Erfahrung. Er hat auch von anderen gelernt. Das könnte er durchaus öfter anmerken. Aber es passt wohl nicht in das Bild, das Bert Hellinger von sich zeigen möchte, dass er von Virginia Satir und anderen Anregungen genommen hat. Er beruft sich immer wieder darauf, dass man diese Arbeit nicht lernen kann, dass er sich allein auf seine Intuition verlässt.

Abgrenzungen

Hellinger widerspricht nicht, wenn seine Arbeit als „systemische Familientherapie“ beschrieben wird. Dazu haben vor allem Retzer und Simon (1998) eine Abgrenzung vorgenommen. Hellinger ist weder Systemiker noch Familientherapeut. „Die Haltung systemischer Therapeuten ihren Klienten und Patienten gegenüber wird im allgemeinen von der Überzeugung bestimmt, dass es viele unterschiedliche Arten gibt, sein Leben und seine Familie zu organisieren, die mit körperlicher und geistiger Gesundheit zu vereinbaren sind“ („Psychologie heute“, Juli 1998, Seite 68). Hellinger suggeriere aber, dass es richtige und falsche Ordnungen gibt, und er es sei, der sie kennt. Sein häufig verwendeter Satz „So ist es gut“ beziehungsweise „Das ist gut so“ am Ende seiner Interventionen dokumentiert, dass er weiß, was das Richtige ist. Er sagt von sich selber, dass er sich nicht irre, er verlasse sich auf seine Intuition und denke nicht darüber nach, weil das die Wahrheit stören würde. Bert Hellinger dazu in einem Interview: „Der Vorgang des Wahrnehmens ist ein ungeheuer mutiger. Denn die Wahrheit, das Richtige, erscheint blitzartig, und zwar ganz kurz. Wenn ich irgendeinen Zweifel daran äußere, wenn ich mich frage, darf ich das?, verschwindet die Wahrnehmung“ („Psychologie heute“, Juni 1995, Seite 24).

Systemische Beraterinnen und Berater gehen dagegen davon aus, dass die Klientinnen und Klienten die Akteure ihres Lebens sind und selbst ihre Wirklichkeiten konstruieren. Und sie konstruieren mit Hilfe der Beratung auch die besseren Wege ihres Zusammenlebens in der Zukunft. Hellinger nimmt seinen Klienten diese Arbeit ab. Er konstruiert die Wirklichkeit und Wahrheit für sie. Jeder erfahrene Familienberater wird versuchen, wenn er mit familiären Problemen arbeitet, das ganze System zu erreichen. Hellinger braucht nur einen einzigen aus dem System und nimmt bewusst in Kauf, dass er nur eine einseitige und sehr subjektive Sicht auf das System haben kann. Damit arbeitet er weiter, manipuliert an einem System, ohne den anderen Beteiligten auch nur die Chance zu lassen, dazu Stellung zu nehmen, ihren Teil, ihre Sicht der Wirklichkeit mitzuteilen.

Hellinger und die Folgen

Es gibt mittlerweile so viele selbsternannte Hellinger-Schüler, die ohne fundierte therapeutische Ausbildung in Schnellseminaren, die ein Wochenende oder eine Woche dauern, unverantwortlich mit Menschen in Notsituationen „spielen“. Aussagen von Volkshochschulen, dass der Markt die Spreu vom Weizen trennen würde, sind nicht nur blauäugig, sondern auch unverantwortlich. Der Markt hat seine eigenen Gesetze, und die sind nun mal nicht immer ethisch motiviert. Man kann nicht Seminare anbieten, ohne sich dafür zu interessieren, welche Ausbildungen die Referentinnen und Referenten haben. Und in einer Zeit, in der auch „Pfusch“ teuer verkauft wird, würde es sich wohl auch lohnen, wenn man nicht nur die Ausbildungen, sondern auch die Persönlichkeit und den ethischen Hintergrund von Referenten mehr in Frage stellen würde. Als Träger von Bildungsveranstaltungen haben daher auch Pfarrgemeinderäte und Verbände dafür eine Verantwortung.

Psycho Fast-food

Die ganzen „Fast-food–Angebote“ im Bereich der Familienaufstellungen sind nicht nur dazu da, einen ersten Eindruck der Arbeitsweisen zu vermitteln, die sich auf dem Psychomarkt dartun, sondern sie ziehen eben auch immer wieder Menschen an, die auf der Suche nach Hilfe sind. Dabei können sie an „Klein-Gurus“ geraten, die lediglich Interesse am schnellen Geld, beziehungsweise an der Ausübung von Macht haben.

Als Familienberaterin, die versucht mit ihren Klientinnen und Klienten respektvoll zu arbeiten, kann ich diese Faszination, die Bert Hellinger auf große Kreise ausübt, nur sehr schwer nachvollziehen. Sicherlich hängt dies auch damit zusammen, dass wir in einer zunehmend unübersichtlich werdenden Welt gerne jemand hätten, der uns sagt, was wirklich richtig ist. Aber so einfach funktioniert es eben nicht. Eine Familientherapie dauert zwischen sechs bis 30 Stunden. Hellinger benötigt für seine „Lösungen und Ordnungen“ nur etwa 20 Minuten. Oft liegt er noch darunter. Probleme lassen sich aber nicht so einfach aus der Welt schaffen, auch nicht von Hellinger. Er missachtet dabei auch eine Grundannahme der Systemischen Beratung: Die Lösung hat die Familie, die Klienten selbst. Beraterinnen und Berater helfen nur bei der Suche.

Virginia Satir konnte sehr gut dazu stehen, dass sie nur ein Angebot machen konnte. Wenn es nicht für die Familie passend war, dann akzeptierte sie deren Entscheidung oder sie hatte sich eben geirrt. Dazu gehört Größe, viel Erfahrung und ein gesundes Selbstbewusstsein. Aber auch das Zutrauen, dass die Familie sich selber heilen kann. Das sind Eigenschaften, die Hellinger offensichtlich gänzlich fehlen.

© Wir bedanken uns für die freundliche Abdruckgenehmigung bei

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