Erzdiözese München und Freising
Fachbereich Weltanschauungsfragen
Informationen zu religiösen und weltanschaulichen Strömungen

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Zeugen Jehovas

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Einleitung

Die Zeugen Jehovas (ZJ) sind wohl die bekannteste religiöse Sondergemeinschaft in Deutschland. Sie gelten als die „Sekte“ schlechthin. 2002 gab es weltweit etwa 6 Mio. sog. „Verkündiger“. Ein nennenswertes Wachstum verzeichnet die Organisation in Osteuropa und in Lateinamerika. Wie bei politischen oder anderen religiösen Organisationen wird man zwischen der ideologischen Leitung und den „einfachen“ Anhängern unterscheiden müssen. An der Spitze steht die „Wachtturmgesellschaft“ (WTG) sowie seit 1971 eine sog. „Leitende Körperschaft“. Sie verdient kritische Anmerkungen; die Mitglieder und Sympathisanten nennen sich „Jehovas Zeugen“ (vgl. Jes 43,10) und sind zumeist menschlich glaubwürdig und engagiert. Sie werden jedoch von der WTG-Organisation in so einseitiger Weise geschult, dass mitunter die Grenzen zwischen „Schulung“ und Manipulation verschwimmen.

Geschichte

Am Anfang der Bewegung stand Charles Taze Russell (1852–1916). Russell hatte als junger Mensch unterschiedliche Kirchen kennengelernt und verschiedenes Glaubensgut in sich aufgenommen, so auch die für die späteren Zeugen Jehovas wichtige Überzeugung von der Berechenbarkeit und Datierbarkeit des Weltendes. Zunächst erwarteten Russell und seine Freunde für 1872/73 das Ende der Welt und die sichtbare Wiederkunft Christi. Als dieser Zeitpunkt verstrichen war, hoffte man auf das Jahr 1874. Nachdem sich die Wiederkunft Christi auch da nicht ereignet hatte, gründete Russell einen eigenen Bibelstudienkreis. Ab 1879 gab er eine Zeitschrift heraus, den Zion’s Watch Tower and Herald of Christ’s Presence, den späteren Wachtturm. Es entstanden Lesezirkel, die den Namen „Ernste Bibelforscher“ erhielten. Russell
wollte überkonfessionell wirken und keine neue Denomination oder gar „Sekte“ gründen. Er steckte sein nicht geringes Vermögen in das von ihm gegründete Verlags- und Missionswerk, in die „Zion’s Watch Tower Tract Society“ (heute: „Watch Tower Bible and Tract Society of Pennsylvania“). Ein Schwerpunkt der Botschaft der neuen Bewegung war die Verheißung, dass mit dem Jahre 1914 das Königreich Gottes auf der Erde in Gestalt eines großen Friedensreiches beginnen werde. Als auch diese Prophezeiung nicht eintrat, wandten sich Tausende enttäuscht ab. Russell starb 1916.

1917 wurde Joseph Franklin Rutherford (1869–1942) Russells Nachfolger. Er macht die Bewegung zu dem, was wir heute unter den Zeugen Jehovas verstehen: Er zwängt die nur lose miteinander verbundenen Versammlungen in eine straff geführte Organisation, in die „Theokratische Organisation“ der „Zeugen Jehovas“. Rutherford beseitigt die demokratischen
Strukturen: Die frei gewählten Ältesten werden durch eingesetzte Versammlungsleiter ersetzt (sog. „Dienstkomitees“). Es entsteht ein Netz gegenseitiger Kontrolle. Aus engagierten Laien und interessierten Bibellesern („Bibelforschern“) werden geschulte Wachtturm-Verkäufer. Rutherford perfektioniert die bekannten Besuche von Haus zu Haus. Auf ihn gehen auch die monatlichen Predigtdienstberichte, die jährlichen Kongresse sowie das System der „Königreichssäle“ (das sind die Versammlungsräume der ZJ) zurück.

Die sog. „Leitende Körperschaft“ in Brooklyn versteht sich jetzt als „Offenbarungs- und Verbindungskanal Jehovas“. Ihren Anweisungen und Bibelinterpretationen ist genau zu folgen. Sie baut die Organisation der Zeugen Jehovas zu einer „Propagandamaschine“ aus. Nach Rutherfords Tod 1942 wurde Nathan Homer Knorr (1905–1977) Präsident der WTG. Er ist der große Organisator, unter dessen Leitung die Gesellschaft ein rapides Wachstum erlangt. Allein in den Jahren 1939–1948 verfünffacht sich die Zahl der „Verkündiger“ (das sind die aktiven Zeugen) auf 230 532. Sie waren in fast 100 Ländern aktiv.

1971/72 installiert Knorr das sog. „Ältestenamt“. Die Ältesten sind Funktionäre, die sich durch besonderes Engagement für die ZJ qualifiziert haben. Der Präsident verlangt strenge Disziplin. 1977 wurde Frederic William Franz (1893–1992) im Alter von 84 Jahren Knorrs Nachfolger; von 1992–2003 war Milton G. Henschel Präsident; wer der neue Amtsinhaber sein wird, ist bislang nicht bekannt.

Zur Lehre

Grundlage ist die Heilige Schrift in der von der Wachtturmgesellschaft genehmigten Auslegung. Die Bibel wird als wörtlich inspiriert angesehen. Jede Bibelstelle gilt einer anderen gleichwertig. Häufig argumentieren Zeugen Jehovas mit biblischen Aussagen in einem völlig anderen Kontext als dem der Heiligen Schrift. Verstärkt wird dieses tendenziöse Verfahren durch eine eigene Bibelübersetzung, die sog. „Neue-Welt-Übersetzung“. Hier haben viele Begriffe aus dem Sprachgebrauch der Zeugen Eingang gefunden. Eine der gravierendsten Verfälschungen in dieser Übersetzung besteht darin, dass an 237 Stellen der (angebliche) Gottesname „Jehova“ in den Text des Neuen Testaments aufgenommen wurde, obwohl dieses
Wort im Urtext nicht vorkommt.

Die Zeugen Jehovas gehen davon aus, dass Gott seinen heilsgeschichtlichen Zeitplan in der Bibel verborgen niedergeschrieben hat. Daraus folgern sie die Notwendigkeit, die Bibel und ihre Zahlenangaben „richtig“ zu deuten. Die Wachtturmgesellschaft bzw. die Zeugen Jehovas kennen keine Ökumene, das heißt, sie halten sich für die einzig richtigen Christen. Andere Kirchen oder Weltreligionen werden radikal abgelehnt und als Formen „falscher Religion“ abgetan. Bei den Zeugen heißt Glauben in erster Linie „fortschreitende Erkenntnis“ aufnehmen und verbreiten, also über ein abfragbares Bibelwissen zu verfügen.

Besondere Probleme

Bluttransfusionen, selbst wenn sie lebensrettend und medizinisch dringend geboten sind, werden unter Hinweis auf Apostelgeschichte 15,29 und alttestamentliche Stellen abgelehnt. Dem ist entgegenzuhalten, dass an den angegebenen Stellen keine Bluttransfusionen gemeint sind, und dem widerspricht auch Matthäus 12, 7: „Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer.“

Der Alltag

Das Leben eines Zeugen Jehovas ist durch Vorgaben der WTG streng geregelt, auch wenn nicht jedes Verbot ausdrücklich in den Publikationen genannt ist: Jehovas Zeugen wissen sehr genau, was erlaubt ist und was Jehova (bzw. die WTG) nicht wünscht. So ist persönlicher Umgang mit Menschen, die keine Zeugen Jehovas sind, in der Regel zu vermeiden. Die Lektüre kritischer Bücher und erst recht die Lektüre von Aussteigerliteratur gilt als verwerflich. Die Mitgliedschaft in Sportvereinen usw. war lange Zeit verpönt.

Viele Feste (Weihnachten, Geburtstage, Fasching etc.) werden als „heidnisch“ abgelehnt. Parteien, Gewerkschaften u.ä. werden kritisch gesehen. Bis vor kurzem war den ZJ nicht nur der Wehrdienst, sondern auch der Wehrersatzdienst verboten. Ähnliches galt für die Teilnahme an Wahlen: Viele Jahrzehnte haben Jehovas Zeugen nicht an Wahlen teilgenommen. In jüngster Zeit zeigt man in dieser Frage zwar nach außen Kompromissbereitschaft, es ist jedoch davon auszugehen, dass die kritische Haltung gegenüber dem Staat intern beibehalten wird.

Organisationsform

Die Zeugen Jehovas sind missionarisch sehr aktiv. Es gibt praktisch keinen Ort in Deutschland, an dem nicht missioniert wird. Zu besonderen Anlässen werden sog. „Sonderfeldzüge“ ausgerufen. In Deutschland ist derzeit von etwa 160 000 Verkündigern auszugehen; die Zahlen sind in den letzten Jahren leicht rückgängig. Da Jehovas Zeugen dennoch Neuzugänge (Taufen) verzeichnen, ist zu vermuten, dass jährlich viele Menschen die Organisation verlassen. Die Zentrale für Deutschland befindet sich in Selters/ Taunus. Hier werden pro Jahr mehr als 12 Mio. Bücher und über 100 Mio. Zeitschriften hergestellt. Ein Großteil dieser Produktion geht ins Ausland. Die beiden Zeitschriften der Zeugen Jehovas erscheinen in gewaltiger Auflage: Der Wachtturm 28 Mio., Erwachet! 34 Mio., und zwar in zahlreichen Sprachen. Beide Hefte sind in jüngster Zeit deutlich „moderner“ und ansprechender gestaltet.

Einschätzung

Die Zeugen Jehovas beeindrucken durch ihr persönliches Engagement, ihre Rastlosigkeit und ihr oftmals glaubwürdiges Auftreten. Aber dies ist nur die eine Seite. Hinter ihrer Fassade erweist sich diese Gemeinschaft sehr schnell als restriktive Organisation, die von den Anhängern blinden Gehorsam erwartet und für kritische Rückfragen, Einwände oder Bedenken keinen Raum hat. Die Wachtturmgesellschaft schuf ein geschlossenes ideologisches System, das jedem Einzelnen seinen Platz zuordnet. Mehr noch: Ein Überleben des Weltendes wird einzig den eigenen Anhängern versprochen, die sich durch fortwährende Beteiligung an den Werbeaktivitäten für die ZJ zu bewähren haben. Dass die Organisation damit dem Gericht Gottes vorgreift, erscheint besonders kritikwürdig. Für viele Menschen, die sich nach Orientierung, Sicherheit und Geborgenheit sehnen, liegt aber gerade darin die Faszination der Zeugen Jehovas.

Ratschläge

Häufig sind Christen ratlos, wenn Jehovas Zeugen unvermittelt an der Wohnungstür stehen.
Folgende Hinweise sind hilfreich:

• Streitgespräche mit Jehovas Zeugen sind wenig sinnvoll. Meist sind Laien der geschulten Gesprächsführung der Zeugen nicht gewachsen.
• Sagen Sie deutlich, dass Sie keine weiteren Besuche möchten, andernfalls werden die Zeugen immer wieder sogenannte „Rückbesuche“ bei Ihnen versuchen.
• Machen Sie Ihren Besuchern klar, dass Sie sich bei Ihrer Kirchengemeinde (hoffentlich!) gut aufgehoben fühlen und keinen Bedarf sehen, sich einer anderen Gemeinschaft anzuschließen.
• Wenden Sie sich bei weiteren Fragen an das örtliche Pfarramt.


Dr. Andreas Fincke/Dr. Michael Utsch, im April 2009