Scientology
Scientology Überblick
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Einleitung
1950 veröffentlichte der amerikanische Science-Fiction-Schriftsteller Lafayette Ronald Hubbard (1911-1986) das Buch „Dianetik“. Hubbard glaubte erkannt zu haben, dass sogenannte „Engramme“ (= unbewusste negative Erinnerungsinhalte) den Verstand des Menschen überschatten und damit verhindern, dass dessen Möglichkeiten ausgeschöpft werden. Der zentrale Werbespruch der Scientology lautet noch heute: „Wir nutzen nur 10 % unseres geistigen Potentials.“
Zur Lehre
Die seit 1976 auch in Deutschland aktive Organisation ist stark umstritten. „Scientology“ bezeichnet sich selber als „Kirche“ und gibt vor, den einzigen Weg für das Überleben des einzelnen Menschen und der gesamten Menschheit zu wissen. Laut Scientology besteht der Mensch aus drei Teilen: dem Körper, dem Verstand und dem Thetan. Jeder Thetan existiere bereits seit Bestehen des Universums und wandere von Mensch zu Mensch. Wenn jemand stirbt, verlässt ihn der Thetan, um sich einen neuen Körper zu suchen.
Im Laufe der Zeit habe nun der Thetan zahlreiche negative Erfahrungen gemacht, die Spuren hinterlassen haben – die „Engramme“. Diese Engramme sind verantwortlich für Krankheiten, Sucht und Verbrechen. Die Scientology-Organisation verspricht, mit Hilfe bestimmter Methoden die Engramme löschen zu können, damit jeder Einzelne und später die ganze Menschheit gereinigt („clear“) werde. „Clear“ nennen die Scientologen den Zustand, nachdem alle Engramme gelöscht wurden. Erst dann, so Hubbard, sei ein leidfreies Leben möglich. Die Methode, „Dianetik“ genannt, fächert sich in verschiedene Vorgehensweisen auf: das Auditing, der Reinigungs-Rundown, Trainingsroutinen, das Studium der Schriften von Hubbard und aufeinander aufbauende Kurse.
Scientology verheißt, den Menschen in die „totale Freiheit“ zu führen. Als Einstieg wird oftmals ein kostenloser Persönlichkeitstest mit 200 Fragen verwendet, der angeblich Stärken, tatsächlich aber vor allem Schwächen aufzeigt. Hier setzt das „Therapieangebot“ in Form von schrittweise immer teurer werdenden Psychokursen ein, die in einem verschachtelten System zu immer mehr Freiheit und Macht führen sollen. Betroffene erzählen, dass sie mehrere tausend, manchmal sogar mehr als 50 000 Euro investiert haben.
Im Mittelpunkt dieser Psychokurse steht das sog. „Auditing“, das von Scientology als „seelsorgerliches Gespräch“ bezeichnet wird, das Aussteiger jedoch oftmals als „Gehirnwäsche“ erlebt haben. Ziel der Scientology-Kurse ist der sog. „Operierende Thetan“ (OT). Der OT „ist mit seiner Umgebung so vertraut gemacht worden, dass er den Punkt erreicht hat, völlig Ursache von Materie, Energie, Raum, Zeit und Denken zu sein“. Diese Wunschfigur schaffe und verändere das physikalische Universum aus Materie, Energie, Raum und Zeit durch sein Wollen. Unberührt von Leiden und Leidenschaften, Schwäche und Scheitern sei ein OT nie mehr Opfer, sondern nur noch Beherrscher seines Schicksals.
Scientology ist eine Ideologie und eine Organisation mit grenzenlosem Machtanspruch. Die Logik ist simpel: „Da Scientology die totale Freiheit bringt, hat sie auch das Recht, die totale Unterordnung zu fordern“ (Hubbard). Jeder, der sich der Scientology-Organisation in den Weg stellt oder sie kritisiert, gilt als Feind und Verbrecher. „Wir fanden“, so heißt es, „niemals Kritiker der Scientology ohne kriminelle Vergangenheit.“ Bei Scientology gilt jedes Abweichen von der eigenen Ideologie als „Verbrechen“. Abtrünnige und Kritiker der Organisation werden auch als „antisoziale Persönlichkeiten“ oder als „suppressive persons“ bezeichnet. Mehr oder weniger deutlich wird bei Scientology gesagt, dass solche „Feinde“ zu vernichten sind. Aussteiger erzählen von „Straflagern“.
Organisationsform
Zahlreiche Unter- und Tarnunternehmen machen den Konzern trotz seiner straffen Hierarchie unübersichtlich. Weitaus größer als die „Kirchen“ sind die Erziehungs- und Wirtschaftsabteilungen, die Hubbards Techniken in der Organisationsentwicklung („WISE“) und im sozialen Bereich (‚ABLE“) anwenden. Diese verschachtelte Organisationsstruktur lässt nur schwer eine Antwort auf die Frage finden, auf welchen Begriff Scientology organisatorisch und sachlich zu bringen ist. Formal ist jede Scientology-Mission ein eigener eingetragener Verein. Trotz geschickter Werbefeldzüge – als Verfechter der Menschenrechte in der Psychiatrie (KVPM), als Notfallseelsorger („Ehrenamtliche Geistliche“) in Krisenregionen oder als Bildungsinitiative getarnt – stagnieren die Mitgliederzahlen in Deutschland zwischen 5000 und 6000 Personen. Aber die Erfahrung lehrt, dass die bloße Mitgliederzahl wenig über den wirklichen Einfluss einer Organisation aussagt.
Einschätzung
Aus politischer Sicht
Seit über einem Jahrzehnt wird die Frage nach der Gefährlichkeit der Scientology-Organisation in der Öffentlichkeit, in den Parteien und in den dafür zuständigen Fachgremien intensiv diskutiert. Bereits Ende 1995 kam ein juristisches Gutachten zu dem Schluss, Scientology sei eine neue Form des politischen Extremismus. Theorie und Praxis der Organisation erfüllten alle Merkmale einer totalitären Organisation: ideologischer Alleinvertretungsanspruch, strenger Dogmatismus, eine abgeschlossene Organisationsstruktur, Führerkult und totale Unterordnung der Mitglieder, eine ideologische Fachsprache mit zum Teil neu definierten Begriffen. Dieses Gutachten bildete eine wesentliche Stütze für den Beschluss der Innenministerkonferenz im Juni 1997, Scientology vom Verfassungsschutz beobachten zu lassen. Bis heute wird die Organisation in 11 der 16 Bundesländer beobachtet. Eine Klage der Scientology-Organisation, die Überwachung einzustellen, wurde im Februar 2008 wegen der nachweislichen Bestrebungen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung höchstrichterlich abgewiesen und ist rechtskräftig.
Nicht allein was Scientology vertritt, sondern auch wie sie ihre Ideologie durchsetzt, fordert zu Widerspruch heraus. Das Verführerische von Scientology liegt darin, dass manche ihrer Trainingsmethoden zur Erzeugung von Unempfindlichkeit und Durchsetzungskraft durchaus wirksam sind und dass ihr ideelles Konzept − wenn auch in wahnhaft übersteigerter Weise − mit seiner Power-Verheißung an manche akzeptierte „Werte“ der Leistungsgesellschaft anknüpfen kann.
Es ist bekannt, dass zahlreiche Firmen bei Scientology bzw. scientologynahen Organisationen Mitarbeiterschulungskurse belegten. Aussteiger berichten von Plänen der Scientology, die gesamte deutsche Wirtschaft zu infiltrieren, ihren politischen Einfluss zu vergrößern und in der gesamten deutschen Gesellschaft die Macht zu übernehmen („Clear Germany“). Selbst wenn das maßlos übertrieben sein sollte, so unterstreicht die Idee jedoch den politischen Anspruch der Scientology-Organisation.
Aus kirchlicher Sicht
Das scientologische Menschenbild widerspricht nicht nur dem Demokratieverständnis des Grundgesetzes, es ist auch mit dem Menschenbild des Christentums unvereinbar. Während der christliche Glaube von der Liebe und Zuwendung Gottes zu dem auf diese Liebe angewiesenen Menschen spricht, hat Scientology einen Menschen vor Augen, der sich selbst zum Gott machen will. Ihre Ideologie ist brutal, rücksichtslos, ausbeuterisch und gefährlich. Sie hat nicht das Geringste mit einer Religion oder Kirche gemeinsam, auch wenn Scientology das immer wieder behauptet und vereinzelt mittels seltsamer Gutachten zu belegen versucht.
Das scientologische Kurssystem kann unter bestimmten Umständen gefährlich werden. Denn ihre Mitarbeiter sind bestens geschult, gerade Menschen in einer Umbruch- oder Krisensituation mit vollmundigen Erfolgsversprechen zu locken und in das kostspielige Kurssystem einzuschleusen. Durch spezielle Techniken sollen die angeblich grenzenlosen Potentiale des menschlichen Geistes verfügbar gemacht werden. Wer möchte nicht gerne Ruhm und Erfolg ernten, an Einfluss und sogar Macht über andere erhalten? Dass Krisen, Grenzen, Verlusterfahrungen und Scheitern zum Menschsein dazugehören und zu würdigen sind, wird im scientologischen Machbarkeitsdenken ignoriert. Gefährlich sind die Scientologen insbesondere wegen ihres Menschenbildes, das in jeder Seele nur eine zu optimierende Maschine sieht. Maschinen haben weder Rechte noch eine eigene Würde.
Dr. Michael Utsch, im August 2008