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Die "Decke des Schweigens"

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Rezension
Die Decke des Schweigens
Jobst Bittner
TOS Verlag, Tübingen
Vierte erweiterte Auflage 2014

Zum Autor
Jobst Bittner studierte in Tübingen Theologie, ist verheiratet mit Charlotte Bittner, mit der er zusammen 1990 die „Tübinger Offensive Stadtmission e. V.“ (bis 2010), heute „TOS Dienste Deutschland e.V.“[1], aus der Tübinger Baptisten-Gemeinde heraus gründete.

Der Autor Jobst Bittner hat mit seinem Buch „Die Decke des Schweigens“ (vgl. auch www.diedeckedesschweigens.de) eine Beschreibung oder Plädoyer vorgelegt, wie heute aus christlicher Sicht mit den Schrecken des Holocaust umzugehen sei. Ausgehend von der These, dass bis heute eine „finstere Decke über Deutschland und Europa“ (S. 95) liege, fordert er zu einem aus vier Schritten bestehenden Prozess auf, in dem die Menschen die Schuld, in die sie (seit Generationen) verstrickt seien, aufarbeiten. Aus der eigenen Betroffenheit soll die Buße erfolgen, die letztlich nur wirkmächtig in einem Bekenntnis geschehen könne, welches Jesus als den Mittelpunkt und Herren bekundet, zugleich aber die jüdischen Wurzeln des christlichen Glaubens wiederentdeckt (vgl. 237 ff.). Aufarbeitung von Schuld und Verstrickung sowie die „Decke des Schweigens“ zu überwinden sei nicht nur Aufgabe des Einzelnen, sondern habe in Familie und Gemeinde genauso zu geschehen wie in ganzen Städten und Nationen (236). Hinter der Forderung, dass Städte oder Nationen als eigenständige Subjekte Schuld bekennen und sühnen müssten, steht vermutlich die Überzeugung, dass sich die Handlungen aller Bewohner einer Stadt bzw. eines Landes und über die Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg zu einer positiven oder negativen unsichtbaren Realität aufsummieren, die wiederum alle Bewohner heute und in Zukunft beeinflusst: „Unbestreitbar ist auch, dass die Sünde einer Nation das Land verfinstert und sich wie eine dunkle Wolke auf ein Land legen kann (…) Sie wirkt auf die Menschen und ihre Nachfahren fort und verhindert ihre Heilung und Wiederherstellung.“ (91)

Bittner geht davon aus, dass es ein jahrzehntelanges Schweigen in den Familien der Tätergeneration gebe. Eine echte Aufarbeitung der Schreckenstaten während des Nationalsozialismus sei bis heute noch nicht vollzogen worden und die „Blutschuld“ sei in vielen Familien und Städten noch nicht gesühnt. Es dürfe daher nicht verwundern, wenn unsere Welt heute in Bedrängnis geriete: „Wohin ich schaue, sehe ich eine Decke des Schweigens: über Menschen, die noch im Schatten ihrer Vorfahren leben und daran leiden; in Kirchen und Gemeinden, die in ihrer Gleichgültigkeit gegenüber dem jüdischen Volk und oft auch in verborgenen antijüdischen Haltungen gefangen sind; und schließlich über Städten und Nationen, deren Blutschuld bis heute noch zum Himmel schreit.“ (205)

Angesichts dieser dramatischen Situation ruft der Autor zu einer umfangreichen Buße auf, indem die heute lebenden Menschen stellvertretend und kollektiv Verbrechen und Schuld bekennen. Da die Auseinandersetzung mit den Verbrechen der früheren Generationen sich nicht auf psychische oder soziale Prozesse beschränke, sondern „den Machtbereich Satans, seiner finsteren Mächte und Dämonen“ (221) berühre, fordert der Autor folgerichtig eine „neue Gebetserweckung“ (232). Eine „geistliche Kampfführung“ (228) sei unvermeidbar angesichts der „Säulen der Finsternis“ (220).

Zugleich mit dieser martialischen Deutung erkennt Bittner unter der „Decke des Schweigens“ nicht nur die kollektive generationenübergreifende Schuld, sondern diagnostiziert für die westliche Moderne mit ihrem liberalen und aufgeklärten Denken (vgl. 227) eine weit fortgeschrittene „Auflösung aller Werte“ (182). „Trotz aller Aufklärung und humanistischer Gesinnung“ (187) sieht er den Menschen sowohl von einem „inneren Zwang geleitet“ wie auch „offensichtlich unentrinnbar mit dem Bösen verwoben.“ (187). Da seiner Ansicht nach die Städte und Nationen offenbar wirkmächtig allein von der „übernatürlichen geistlichen Welt regiert“ (221) werden, sind folglich alle irdischen Mittel wie sozial-caritatives Engagement, politische Entscheidungen oder die menschenfreundliche Gestaltung unserer Gesellschaften vergeblich (vgl. auch 231). Eine positive, zugleich nachhaltige Veränderung der sozio-ökonomischen Verhältnisse sei ausschließlich über die Hinwendung zu Jesus, dessen Anerkennung als Messias und das Gebet möglich: „Kein politisches Programm, keine noch so wirksame wirtschaftliche Hilfe und kein perfekt ausgeklügeltes Sozialsystem können die Verhältnisse im sichtbaren Bereich einer Nation nachhaltig verändern.“ (222).

Jobst Bittner hat in Tübingen evangelische Theologie studiert, wo er schon früh auf die Frage nach der Bedeutung des Judentums für das Christentum stößt. Einmal sensibilisiert, beginnt er, den antisemitischen und rassistischen Auswüchsen seiner Heimat und der Universität, an der er studiert, nachzugehen und für seine Stadt zu beten. Die „Widerstände“, die er beim Beten spürte, seien gewesen „wie eine finstere Wand, die (sie) nicht durchdringen konnten“ (50/51). Dies spornt Bittner an, den Ursachen für die gefühlte Finsternis nachzugehen. Er entdeckt für sich in der frühen Hinwendung des Christentums zur griechisch-römischen Philosophie, in der religiösen Machtergreifung Kaiser Konstantins im 3. Jahrhundert und der Abwendung von den jüdischen Wurzeln die Grundlage allen Übels. Bittner behauptet, dass durch den Bruch mit dem jüdischen Erbe das Christentum seine ursprüngliche „Vollmacht und Kraft“ verloren habe und daher auch nichts mehr gegen die „Summe dämonischer Belagerung und Behinderung“ (91) ausrichten könne. In der Ablehnung des hebräischen Erbes und durch die vermeintliche Verleugnung der biblischen Offenbarung zu Gunsten einer griechisch-hellenistisch geprägten Theologie sieht Bittner einen genetischen Fehler, der sich bis in die heutige Zeit fortsetzt. Weil der Fehler von Generation zu Generation vererbt würde, spricht er von einer „geistliche(n) DNA" (80;104), die mitursächlich sei für die heutige „Heidenkirche“ der westlichen Welt und der in ihr seiner Meinung nach vorherrschenden liberalen Theologie: „Sobald sie aber bereit waren, sich für den hellenistischen Zeitgeist, den „Geist der Söhne Griechenlands“ zu öffnen, trennten sie sich von ihrem hebräischen Erbe und verloren damit ihre geistliche Kraft! Die Gemeinde Jesu hat die Türen für den säkular-humanistischen Geist heute wieder weit geöffnet. Ihre größte Tragödie ist, dass ihre geistlichen Waffen gegenüber der Welt stumpf geworden sind und sie zu großen Teilen ihre Unterscheidungskraft verloren hat.“ (80).

Die Wiedererlangung der ursprünglichen (geistlichen) Kraft ist für den Autor nur möglich, wenn alle von der diagnostizierten „Decke des Schweigens“ Betroffenen[2] beginnen, ihr Schweigen zu brechen, ihre Schuld, d.h. die eigene Schuld wie auch stellvertretend die Schuld der vorangegangenen Generationen eingestehen und schließlich zurückkehren zum Gott Abrahams. Ihm die Ehre zu erweisen, bedeutet „aus dem geistlichen Schlaf erwachen“ (90) und sich „von der Gnade und dem Licht Jesu beleuchte(n)“ (96) lassen.

Mit seiner Initiative „Marsch des Lebens“ (vgl. www.marschdeslebens.org oder www.mdl-bayern.org) bemüht sich Bittner seit einigen Jahren, das Bewusstsein für die Gräuel der Konzentrationslager, vor allem aber die Erinnerung an die Todesmärsche wachzurufen. Anfang 2015 jähren sich zum 70. Mal diese grausamen Taten, als kurz vor Ende des Krieges die SS-Schergen mit ihren Helfern KZ-Gefangene bei eisiger Kälte und unmenschlichen Bedingungen auf Todesmärsche schickten oder in Zügen quer durch Europa transportierten. Wer nicht weitergehen konnte, wurde von den Wachmannschaften ermordet. Das Leid der vielen (namenlosen) Opfer wie die Taten der Soldaten, aber auch das Wegschauen seitens der Zivilbevölkerung möchten die Initiatoren[3] zum Thema machen: das Schweigen brechen, die „Vorfahrensschuld“ (104) aufarbeiten durch Bekenntnis, Umkehr und Gebet. Das hier besprochene Buch stellt den ideologischen Hintergrund dieser Initiative dar und erläutert, worauf es im Eigentlichen ankommt: Der „Marsch des Lebens“ ist weniger ein Gedenkmarsch zur Erinnerung. Er ist vielmehr ein Gebetsmarsch, der das „übernatürliche Eingreifen Gottes“ (265) erbittet, zugleich die „heilende und transformierende Therapie“ (232) für Stadt und Land vorantreibt, die Menschen aus der Sphäre befreit, wo „Satan und das gestaffelte Heer seiner dämonischen Mitarbeiter“ (228) herrschen und die gemeinsamen Wurzeln mit Israel bekennt.

Der Theologe Bittner versäumt es nicht, seine Darlegungen und Aufforderungen mit vielfältigen Bibelverweisen zu untermauern. Jedoch stellt sich bei kritischer Sichtung sogleich die Frage, ob die Bibelzitate das beweisen, was der Autor damit belegen möchte. Aus dem jeweiligen Kontext gerissen, ohne Rücksicht darauf, mit welcher ursprünglichen Intention einzelne Sätze verfasst wurden, fährt der Theologe bunt gemischt aus den Schriften des Alten und Neuen Testamentes Verse auf, um seine Sichtweise zu belegen. Dass diese Steinbruchexegese weder die historischen Entstehungsbedingungen berücksichtigt, noch ein Problem darin sieht, zwei- bis dreitausend Jahre alte Texte einfach in das Hier und Jetzt zu übertragen, führt die hier angewandte biblische Beweisführung ad absurdum.

Ähnlich irritierend ist die dualistische Weltsicht, die das ganze Denken durchzieht. Da ist auf der einen Seite der wirkmächtige christliche Glaube, der sich seiner jüdischen Wurzeln bewusst ist und da ist auf der anderen Seite die moderne Kirche mit ihrer liberalen Theologie, die angeblich das jüdische Erbe verleugne und stattdessen allein auf griechisch-hellenistische Rationalität setze. In einem fast platonischen Sinne unterscheidet der Autor zwischen der nur-irdischen Welt, die irgendwie irrelevant zu sein scheint, und dem eigentlichen, übernatürlichen Raum, der „für Gott der realere der beiden“ (220) sei. Zugleich steht der Mensch in einer Art apokalyptischem Kampf[4]: trotz jahrelanger geistlicher Kampfführung befände sich der Mensch „im Machtbereich der Finsternis“ (228), weshalb Verstand, Wille und Emotionen getrübt seien. Indem Bittner vor „den Verführungen des säkularen Humanismus“ (231) warnt, der den Menschen einzig zu einem „vernunftorientierten Egoisten“ (231) mache, legt er seine ganze kulturpessimistische Sichtweise offen. Mit seiner Hermeneutik des Verdachtes gegen die menschliche Vernunft erklärt er letztlich alle Wissenschaft, Theologie, Ethik und Politik für korrupt, sieht er in der Gesellschaft nur noch zunehmende Orientierungslosigkeit und Entwurzelung (vgl. 23).

Die dualistische Sichtweise mündet in einen Fatalismus. Zugleich aber betont der Autor, dass der Mensch sich für das Gute und gegen das Böse entscheiden und danach handeln solle. Zugleich behauptet er, dass das, „was sich im Sichtbaren abspielt, (…) immer Einfluss auf die übernatürliche Welt“ (222) habe. Wie passt das zusammen? Wenn der Einflussbereich Satans größer wird, wenn die „Decke des Schweigens“ dichter wird, ist es die Schuld des Menschen. Wenn das Gute siegt, ist letztlich Gott dafür verantwortlich?!? Spätestens hier zeigt sich, dass die dualistische Weltsicht des evangelikalen Theologen in die Irre führt. Der Mensch, begabt mit Herz und Verstand, ist nicht nur schlecht und böse, nicht nur entmutigt und verzweifelt, die Gesellschaft ist nicht nur egoistisch, verdreht und orientierungslos, die etablierte Theologie hat keineswegs die hebräischen Wurzeln vergessen, unsere Sozialsysteme sind ein Segen und ohne das politische Handeln würde die Gesellschaft im Chaos versinken. Selbst die „im Geist der Aufklärung“ (107) geprägte säkulare Moderne ist nicht so schlecht, wie der Autor den Leser glauben machten möchte. Ohne das Vertrauen auf die menschliche Vernunft, ohne kritische Rationalität und humanistisches Handeln bleibt jede Hoffnung auf Gott magisch und leer. Wer Gott gegen den Menschen ausspielt, kann sich damit nicht auf den biblischen Gott berufen. Vielmehr scheint dahinter eine Weltflucht auf, die alles Menschliche gering achtet und die letztlich in eine Dämonologie führt, der nur noch durch dualistisches Kampfgebet oder magischen Befreiungsdienst beizukommen ist.

Vielleicht ist es diese dualistisch-magische Weltsicht, die Jobst Bittner zur Annahme einer „Decke des Schweigens“ geführt hat. Denn dem Autor geht es zwar auch um das tatsächliche Verschweigen von realen menschlichen Erfahrungen – sowohl der Erfahrungen der Vorfahren wie auch der Erfahrungen späterer Generationen – aber eigentlich geht es ihm um die Decke, die den übernatürlichen Raum beherrscht und die es zu beseitigen gilt, indem der Mensch durch Bekenntnis, Buße und Gebet Gott zum Handeln bewegt. Die Decke, die über den Nationen liege, könne nur „vom Berg Zion aus zerrissen werden“ (224). Vielleicht ist es diese dualistisch-magische Weltsicht, die alle bisherigen Initiativen, Veranstaltungen und Veröffentlichungen gering achten lässt, die bis heute die Aufarbeitung speziell der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft, des Holocaust und des Antisemitismus geleistet haben und immer noch leisten. Vielleicht ist es diese dualistisch-magische Weltsicht, die den Autor daran hindert, die Aufarbeitung der Geschichte als pädagogische Aufgabe zu sehen und zu erkennen, dass das konkrete Leid der Menschen mit Hilfe von Psychotherapie und Seelsorge aufzuarbeiten ist.[5]

Wer eine „Decke des Schweigens“ behauptet, den „Marsch des Lebens“ als so exklusiv vorstellt, ohne die jahrzehntelange Arbeit so vieler auch nur mit einem Wort zu erwähnen, der muss von einer enormen Ignoranz und Arroganz geprägt sein, oder der kämpft auf anderem Terrain mit anderen Mitteln.[6] Dann aber handelt es sich beim „Marsch des Lebens“ nicht oder nicht im eigentlichen Sinne um einen Gedenkmarsch, dann geht es nicht um Mahnung und Erinnerung, sondern dann handelt es sich um eine geistig-geistliche Mobilmachung gegen eine „dämonische Decke“ (224). Folgerichtig versteht Bittner den „Marsch des Lebens“ als „Wegbereiter sowie vollmächtige(s) Werkzeug für einen geistlichen Durchbruch“ (265). Folgt man der dualistisch-magischen Sichtweise nicht, erkennt man die seit Jahrzehnten stattfindenden vielfältigen Initiativen zur Aufarbeitung und Versöhnung an, dann darf man getrost die Annahme der Existenz einer „Decke des Schweigens“ ablehnen. Selbstverständlich sind die schändlichen Verbrechen während der NS-Diktatur, ist das schreckliche Leid so vieler Menschen und sind die vielfältigen Verstrickungen – auch über die Generationen hinweg – bis heute Mahnung, Auftrag und Aufgabe für die heute Lebenden wie für die zukünftigen Generationen. Auschwitz (auch als Synonym) ist eine Zäsur innerhalb der Menschheitsgeschichte. Aber eine „Decke des Schweigens“ gibt es so nicht.

Ebenso wenig überzeugt die Vorstellung einer Kette von traumatischen Erfahrungen, die an die nachfolgenden Generationen starr weitergegeben würde, die „Versöhnung, Heilung und Wiederherstellung“ bei jedem persönlich, in Familien, in Kirchen und Gemeinden sowie in Städten und Nationen verhindere (vgl. Kapitel 3). Die psychologische Fachliteratur (auf die Bittner im Kapitel 4 ausdrücklich verweist) beschäftigt sich durchaus mit einer transgenerationalen Weitergabe von Erfahrungen, auch von traumatischen, wie aus dem Holocaust. Sie sieht dieses Phänomen aber deutlich komplexer, als es die Rede von einer „geistlichen DNA (…) die von Generation zu Generation immer mehr Informationen abspeichert“ (105) meinen macht. Traumatische Erfahrungen resultieren nach dem Stand der Forschung beispielsweise in Verhaltensweisen, die wiederum traumatische Erfahrungen in den folgenden Generationen hervorrufen können. Zudem können einige Erkrankungen häufiger auftreten – dies entspricht dem häufig angenommenen Vulnerabilitäts-Stress-Modell der Entstehung psychischer Krankheiten (d.h. bestimmte Krankheiten können genetisch veranlagt sein, treten jedoch erst bzw. nur bei widrigen Lebensumständen zum Vorschein). All dies verläuft bei keiner Person und Familie gleich und tritt keineswegs überall überhaupt auf – und es ist nicht das zwingende Resultat eines neuen Erbguteintrages o.Ä., sondern vielmehr eine mögliche Folge der konkreten Bewältigungsversuche einer Person, mit erfahrenem Leid umzugehen. Außerdem bleibt anzumerken, dass Opfern und Familienangehörigen mit traumatischen Erfahrungen therapeutische Hilfe (ohne weltanschauliche Vorannahmen zur Lösung des Problems) zur Seite gestellt werden sollte. Erweckungserfahrungen, wie sie dagegen im Buch als Lösung dargestellt werden (vgl. Kap. 4) würden von den zuvor zitierten psychologischen Autoren wohl kaum als adäquat betrachtet werden. Gleiches gilt für die „Vorfahrensschuld“ (105), die im Zusammenhang mit der geistlichen DNA behauptet wird.

Ohne die Opfer und die systematische Verfolgung und Ausrottung jüdischer Menschen, deren Religion und Kultur auch nur andeutungsweise geringachten zu wollen, muss doch die Frage erlaubt sein, warum Jobst Bittner mit seiner Gemeinde und weiteren Initiatoren des „Marsch des Lebens“ das Leid der vielen anderen Opfer grausamer Verfolgung systematisch ausblendet. Es gibt nicht nur die jüdischen Opfer, sondern noch viele andere Menschen, die z.B. aufgrund von Religion, Nation, Weltanschauung, sexueller Identität, gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder schlicht aus Neid zu Opfern des Wahnsinns wurden. Ferner ist nicht einzusehen, warum sich Bittner bei der Erklärung der „Decke des Schweigens“ nahezu ausschließlich auf die Gräueltaten während der Zeit des Nationalsozialismus beschränkt. Was ist mit dem Leid und den über die Generationen weitergereichten Erfahrungen der Menschen aus früheren Kriegen und Katastrophen? Ist es nicht merkwürdig, dass dieses Buch in einer Zeit erscheint, wo Europa der vielen Opfer und schrecklichen Erfahrungen des 1. Weltkriegs gedenkt und der Autor ganz ohne Berücksichtigung der Wunden dieser Zeit seine Theorie bildet?

Jobst Bittner hat mit seinem Buch „Die Decke des Schweigens“ ein Buch vorgelegt, das in weiten Teilen und stellenweise bis in die Details der Sichtweise Wolfhard Margies folgt, dem Gründer der neocharismatischen „Gemeinde auf dem Weg“ in Berlin. Margies hat schon im Jahr 2000 ein „Deutsches Geschichtsbuch für Beter“ herausgegeben, in dem auf gut 100 Seiten die deutsche Geschichte von den „Helden, Kelten und Germanen“ (Kapitel 2) bis heute dargelegt wird. Auch das Geschichtsbuch ist geprägt von einer kaum nachvollziehbaren dualistischen Verkürzung der Geschichte. Diesen Duktus aufgreifend, ergänzt Bittner seine Darlegung mit seinem Blick auf die christlich-jüdische Geschichte und leitet daraus u.a. die politische Forderung ab, man müsse heute „den Staat Israel“ allein deshalb schon unterstützen, weil man sich damit nicht nur hinter die Pläne und Absichten Gottes stelle, sondern zugleich auch gegen die „satanische Absicht (…), Israel zu zerstören“ (248). Unabhängig von diesem Dualismus muss auch diese Verquickung biblisch-religiöser Rede mit der Realpolitik zurückgewiesen werden; der Staat Israel ist eine eigenständige politische Größe, die nicht mit dem (biblischen) Judentum oder dem jüdischen Volk gleichgesetzt werden darf. Noch weniger eignen sich die vermeintlichen Folgerungen aus dem Alten oder Neuen Testament, um die Probleme im Nahostkonflikt heute zu lösen.

Es darf nicht in Frage stehen, ob Aufarbeitung der Geschichte und Gedenken an Gräueltaten nötig oder bedeutsam sind. Sie sind es zweifellos, ebenso wie die Solidarität mit den Opfern und Unterdrückten – damals wie heute. In der politischen wie auch in der kirchlichen Geschichte gibt es lange, unrühmliche Phasen, in der dies keineswegs selbstverständlich war. Oft schrecken uns auch heute noch Äußerungen und Ansichten auf, die wir meinten, hinter uns gelassen zu haben. Umso mehr ist und bleibt die Erinnerung und Bewahrung notwendig und einzig richtig.

Nach der Lektüre des Buches bleibt jedoch sehr wohl die Frage, ob diese Mahnung und Solidarität mit einem geistlichen Gebetskampf verbunden werden darf, will man das Gedenken nicht für die eigene christlich-apokalyptische Ideologie instrumentalisieren. Die vermittelte Sichtweise erinnert an eine Person, die mit Sonnenbrille ein Kino besucht. Sie wird vom gezeigten Film nur die sehr hellen Szenen erkennen, was dagegen weniger gut ausgeleuchtet oder erkennbar ist, entgeht ihr. Problematisch wird diese Vorgehensweise jedoch dann, wenn die Person im Nachhinein vom Film erzählt – mit dem Anspruch, den Film in voller Gänze und allen Facetten wiederzugeben.

Wer die Überzeugung teilt, es gäbe diese „Decke des Schweigens“, muss letztlich auch die beschriebene dualistisch-magische Weltsicht teilen.

 

Axel Seegers
Februar 2015

Weitere Informationen zum Thema Judentum auf unserer Homepage

Eine Stellungnahme zum "Marsch des Lebens" vom Zentrum Ökumene der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) sowie der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck (EKKW) finden Sie hier.

Weitere kritische Stellungnahmen zum "Marsch des Lebens" wurden von der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland (die Stellungnahme finden Sie hier) sowie der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (ELKB) verfasst.



[1] Die TOS ist neucharismatisch geprägt und versteht sich als evangelische Freikirche. Sie wurde 1990 von Jobst und Charlotte Bittner in Tübingen gegründet. Zum Selbstverständnis heißt es: „Die TOS ist ein evangelisch-freikirchliches Werk, da sie organisatorisch nicht der Landeskirche angehört, ihr Glaube aber auf dem protestantischen Glaubenscredo ‚Erlösung allein aus Gnade‘ basiert. Sie versteht sich als zugehörig zur weltweiten Gemeinde Jesu, ist Teil des charismatischen Aufbruchs, der momentan ca. 600 Millionen Christen aus allen Konfessionen umfasst und bekennt sich zu den Statuten der internationalen Evangelischen Allianz.“
(http://www.tos.info/index.php?id=741 Stand: 20.02.2015)

[2] Folgt man dem Gedankengang Bittners, müsste dies eigentlich bedeuten, dass mindestens alle Europäer von dieser „Decke des Schweigens“ betroffen sind – entweder weil die Vorfahren alle als Täter oder Opfer beteiligt waren oder weil die europäische Kultur seit 2000 Jahren vom christlich-hellenistischen Denken geprägt ist.

[3] Initiatoren waren zunächst Jobst Bittner und seine freikirchlich-charismatische Gemeinde „TOS Dienste Deutschland e.V.“ aus Tübingen. Mittlerweile gibt es zahlreiche weitere Initiativen, die rechtlich eigenständig, aber inhaltlich weiterhin der Ursprungsidee verpflichtet sind. Beispielsweise gibt es in Bayern den neu gegründeten Verein "Marsch des Lebens - Bayern e.V." (vgl. www.mdl-bayern.org). In dessen Vorstand befindet sich wiederum Harald Eckert („Christen an der Seite Israels e.V.“, vgl. www.israelaktuell.de), der zugleich ein Vorwort für Bittners Buch verfasst hat.

[4] „Ich glaube von Herzen an eine große endzeitliche Ernte, die der Herr in den Ländern der westlichen Welt vorbereitet hat. (…) Die Gemeinde mit dem ‚Geist der Söhne Zions‘ wird in einer Zeit, in der die Liebe in vielen erkaltet (Mt 24,12), ihre Stimme vollmächtig erheben und die Decke des Schweigens zerbrechen können.“ (284f.)

[5] Der einmalige Hinweis auf Möglichkeit und Notwendigkeit einer („christlichen“) Psychotherapie (236) in der gesamten Abhandlung zeigt, dass anerkannte und ergebnisoffene Therapie für Bittner keine wirkliche Option ist. Nicht die sozial-therapeutische Aufarbeitung sondern die geistliche Befreiung aus dämonischen Verstrickungen ist demnach die einzig adäquate Bewältigungsmöglichkeit. Dies zeigen auch die zitierten Beispielgeschichten in Kapitel 4, in denen die Hinwendung jüdischer Betroffener zu Jesus letztlich die Traumatisierung heilt.

[6] Die wenigen Literaturhinweise und Adressen am Ende des Buches helfen die Einschätzung nicht zu korrigieren.